Die Familie

Ich kann heute kaum auf den Feierabend warten und hibbele bereits seit Stunden auf meinem Bürostuhl, während ich lustlos meiner Büroarbeit nachgehe. Die Augen stets zur Uhr auf dem Computerbildschirm gerichtet, zähle ich jede Sekunde mit.

Nie fuhr der Computer schneller herunter in der Vergangenheit als es heute der Fall war und die Zeit für den Feierabend gekommen ist, und meine Kollegen kennen es bereits, dass ich an Tagen, an denen mein Verein spielt, aufgeregter bin, doch heute ist es besonders schlimm.

Denn heute ist etwas anders: Mein Vater geht mit mir zu einem Spiel. Ich gehe zwar auch öfter mit Freunden in den letzten Jahren, aber mein Vater hat lange nicht mehr die nötige Energie gehabt, mich zu begleiten.

Dabei ist er hauptverantwortlich dafür, dass ich so verliebt bin. Damals wie heute gleiche ich mehr einer kleinen Biene als einem Menschen an Tagen, an denen gespielt wird. Zuhause jubeln wir schon so oft zusammen und trösten uns gegenseitig. Die Liebe wird nur stärker statt schwächer.

Und so habe ich mein Auto schon voll mit meinen Schätzen, bevor ich mich überhaupt auf den Weg zu meinem Vater mache. Kühl genug für einen Schal ist es zwar nicht, aber mies angezogen zu sein, würde ich schlimmer finden, und so fahre ich in meiner gelb-schwarzen Uniform zur Wohnung meines Vaters.

Er erwartet mich bereits an der Haustür, ebenfalls in ein Trikot gehüllt, und strahlt mich an, als er auf mich zukommt. Es sind zwar noch Stunden bis zum Anpfiff, und wir wohnen natürlich in Dortmund, aber der organisatorische Kram kostet noch etwas Nerven und Zeit, bis wir endlich dort sind.

Somit fahren wir zur nahegelegenen U-Bahn-Station, und ich parke dort. Die Bahn ist Richtung Signal Iduna Park immer etwas voller, und manche haben schon einen guten Pegel sowie einen Bierkasten gleich mit, doch Gleichgesinnte lassen sie meistens in Ruhe und befassen sich mit ihrem Suff.

Mein Vater hat bei den Treppen zwar Schwierigkeiten sich der Geschwindigkeit der Massen anzupassen, doch heute wirkt er äußerst agil. Die Vorfreude, mit mir zum Spiel zu gehen, hat wohl neue Lebensgeister geweckt.

Als wir endlich vor dem Stadion ankommen, erbebt der Boden bereits von Gesängen. Stände, die Essen und Trinken verkaufen, nutzen die Gelegenheit der aufkommenden Menschenmassen, um das eine oder andere zu verkaufen.

Viele Gruppen, die lautstark feiern, sind ebenfalls als Fans zu erkennen, und es erwärmt mein Herz, wie viele Borussen immer zum Spiel kommen. Wie viele auch in den Momenten des Scheiterns lieben und treu bleiben.

Wir haben noch genug Zeit bis zum Spielbeginn und würden somit relativ zügig durch die Kontrollen zu unseren Sitzplätzen kommen. Doch die Chance, uns eine Bratwurst im Brötchen mit Senf zu gönnen, lassen wir uns nicht nehmen.

So stehen wir vor dem Stadion, umhüllt von Gesängen, und essen gemeinsam unsere Bratwurst an diesem herrlich klaren Tag, an dem selbst der Himmel freudig unsere Jungs erwartet. Nach der Bratwurst nehme ich meinen Vater an die Hand und gehe mit ihm ins Stadion.

Einige Treppen, Gänge und Kontrollen später kommen wir zwischen den Sitzreihen heraus und suchen unsere Plätze. Die Freude steht uns bereits beim ersten Betrachten der Fläche ins Gesicht: Wir haben Plätze in den Sitzreihen ergattert, die ein knallig gelbes „BVB“ dem Betrachter entgegenwerfen.

Und als wir endlich auf unseren gelben Sitzen Platz nehmen, atmet mein Vater erleichtert auf. So viel Kraft, wie er aus dem ganzen Unterfangen ziehen kann, ist die Last für ihn sicher groß gewesen.

Doch ich bin mir sicher: Das Spiel wird schön, und die Lebensgeister kehren bei jedem Tor, das unser Verein erzielt, wieder in ihn zurück und reißen ihn jubelnd in die Höhe, statt dass er auf seinem Sitz verharrt.

Und so sitzen wir hier. Seine Hand sucht meine und tätschelt sie sanft. Nach und nach werden immer mehr der Feiernden vor dem Stadion ins Innere verlegt, und mit der Feier gesellen sich auch die Urheber dessen auf die Plätze um uns herum.

Das Stadion wird immer voller, es ist laut und ausgelassen, und die Zeit wird immer knapper bis zum Anstoß, eine halbe Stunde noch, dann geht es endlich los. Dann beginnt das Spiel, bei dem viele wohl bereits mit einem Sieg rechnen. So wie gefeiert wird, hat es auf jeden Fall den Anschein.

Und verübeln kann ich es ihnen nicht: Schließlich spielen wir heute gegen Werder Bremen, die bekommen regelmäßig, vor allem zuhause, von unseren Jungs den Po versohlt.

Doch vielleicht passiert ja etwas Unerwartetes, ein Unentschieden vielleicht. Eine Niederlage gibt es auch schon, das kann ich nicht abstreiten, aber deutlich seltener, weswegen meine Überlegenheit, die ich durch die Verbundenheit als Borussin verspüre, gerechtfertigt ist.

Der Sturm aus Stimmen bewegt sich wellenartig durch das Stadion, und endlich ist der lang ersehnte Moment gekommen. Musik ertönt, und aus dem Dunkeln des Tunnels schält sich das Gesicht von Can, welcher ein Kind an seiner Hand hält.

So wie alle um uns herum stellen wir uns zum Einlauflied hin und singen textsicher mit. Das Lied gehört dazu, und ich singe es schon seit frühen Kindertagen mit meinem Vater.

Nach Can folgen Kobel, Anton, Bensebaini, Couto, Groß, Svensson, Bellingham, Guirassy und Adeyemi, und wir wissen somit, wer die Startelf ist. Während die Kinder vom Feld geführt werden, nachdem das Einlauflied durch ist und die Teams sich voreinander aufgestellt haben, setzen wir uns wieder.

Die Musik läuft weiter, und die ausgelassene Stimmung ist von den Gesängen der Borussen erfüllt. Mein Vater zupft an meinem Trikot und fragt nach dem Singen etwas kratzig: „Meinst du… meinst du, sie wechseln Anselmino später noch ein?“

Ich überlege kurz, denkbar wäre es, vor allem bei den Leistungen der letzten Spiele, daher lehne ich mich rüber und rufe: „Ich denke ja, er ist selten in der Startelf, aber wenn’s ernst wird, zögert man selten, ihn zu holen.“

Woraufhin mein Vater anerkennend nickt: „Ja, das denke ich auch.“ Nach der Bekanntgabe aller Spieler durch den Stadionsprecher geben sich die Spieler noch die Hand, bevor es endlich mit Can, Friedl und dem Schiri mittels Münzwurf zur Entscheidung kommt, wem der Anstoß gebührt.

Und die Götter sind uns heute erneut wohlgesonnen: Wir dürfen anfangen. Die Teams begaben sich auf ihre Positionen, abgesehen von Guirassy und Bellingham, die sich im Anstoßkreis positionieren.

Der Pfiff des Schiedsrichters ertönt, und Guirassy passt zu Bellingham, welcher nach vorne spielt. Währenddessen setzen sich alle anderen Spieler in Bewegung, und das Spiel beginnt.

Trotz der geringen Präsenz im Feld von Werder holt sich Guirassy den Ballbesitz zurück und passt zu Adeyemi, der unweit von ihm Stellung bezogen hat. Trotz Bedrängnis gelingt der Pass, und als der Schuss aufs Tor passiert, starren alle Augen gebannt aufs Feld.

Hein stoppt den Ball, doch das Herz der Werder-Fans scheint ihnen bereits in die Hose gerutscht zu sein. Kaum hat das Spiel begonnen, und es wird bereits knapp. Hein gibt an Weiser, der zu stark weiterspielt und von Couto gebremst wird.

Der Pass Veljkovićs misslingt, und Svensson nimmt ihn an, ein Jubeln löst sich bei uns aus. Nach ein paar überwundenen Metern kommt Bellingham in Reichweite, übernimmt und gibt an Guirassy.

Guirassy lässt sich nicht lange bitten und schießt aufs Tor. Hein ist ein unglaublich guter Torwart, doch er hat einfach keine Chance, der Ball geht rein, und wir springen von unseren Sitzen auf.

Als der Schiedsrichter das, was unsere Augen gerade gesehen haben, bestätigt, entbrennt erneut Gesang und Jubelschreie, die das gesamte Stadion einhüllen und die Klagerufe der Werder-Fans übertönen.

Unsere Jungs nutzen die Gelegenheit, nah an den Rändern des Spielfelds in Kontakt mit ihren jubelnden Fans zu kommen, bevor es wieder gilt, sich aufzustellen und Werder nach dem Tor den Anstoß zu gewähren.

Eggestein und Ducksch am Anstoßkreis, der Pfiff ertönt, und Ducksch bekommt von Eggestein den Ball, bevor er mit diesem in unser Feld marschiert. Nach einem Pass zu Topp, der seine Stärken so schlecht ausspielen kann, entbrennt ein Kampf mit Anton.

Ducksch ist gezwungen zu passen und spielt zu Schmid, der ihm den Ball gleich wieder per Luftpass zurückschickt. Ducksch steht bereit, und trotz der schwarz-gelben Präsenz gelingt ihm der Kopfball.

Kobel springt, doch es reicht nicht mehr, Entsetzen steht uns ins Gesicht geschrieben. Nach kurzem Warten auf die Bestätigung des Schiedsrichters müssen wir schweren Herzens akzeptieren, dass es nun 1:1 steht.

Nach einem Raunen der Verzweiflung stimmen wir zu einem Gesang an, um unsere Jungs über das Feld zu tragen. Doch bis zur Halbzeit passiert nichts, das irgendeine Seite zum Schwitzen bringt. Alles ist noch drin, und ein Unentschieden wäre keine Katastrophe, aber so habe ich es mir nicht vorgestellt.

Nach der Halbzeit gibt es in der Verteidigung einen Wechsel: Bensebaini geht raus, Anselmino kommt rein. Nach dem Anpfiff und Anstoß von uns ausgehend beginnt ein stetig wildes Gerangel.

Immer wieder gelingt es Werder, den Ball auf unsere Seite zu bringen, die vor der Halbzeit noch die von Werder gewesen war. Mir läuft langsam der Angstschweiß, doch Anselmino stoppt jeden Angriff, als wäre er dafür geboren worden.

Die Zeit verrinnt, und es wirkt stellenweise zermürbend, wie stark Werder sich heute präsentiert. Es ist spannend, klar, aber einen Sieg mit meinem Vater nochmal live zu sehen, wäre auch gut.

Ich patsche mir ins Gesicht, warum so negativ, würde so ein wahrer Fan denken. Ich stehe auf und stimme mit den anderen in den Gesang ein, um mich darauf zu fokussieren, für wen ich eigentlich mit Herz und Seele brenne. Mein Vater bleibt sitzen, singt aber ausgiebig mit.

Als es langsam knapp wird, erlöst mich Adeyemi von meinem Leid und schießt nach einigen Pässen zwischen ihm und Guirassy aufs Tor und trifft. Einen Augenblick später gibt es die Bestätigung: 2:1 für den BVB.

Also wieder Anstoß und Anpfiff für Werder in der vorherigen Besetzung, doch die Zeit wird langsam knapp, und Anselmino versaue ihnen ausgiebig die Tour. Als die 90. Minute angebrochen ist, erteilt der Schiri noch zwei Minuten Nachspielzeit, zwei Minuten Zittern, die maximal in ein Unentschieden enden könnten. Das wird schon.

Wir werden umso lauter: Jetzt nicht verkacken, nicht aufgeben, nicht müde werden. Dieser Sieg gehört uns, wir schaffen das. Als die zwei Minuten um sind, ertönt der Schlusspfiff, und ich sinke erschöpft in meinen Sitz, obwohl ich nun feiern sollte. So nervenaufreibend.

Während Fans und Spieler jubeln und singen, jubelt mein Vater neben mir mit Freudentränen im Gesicht. Ich bin froh, dass wir das nochmal so teilen konnten. Ein wenig singe ich noch mit, bis alle Spieler vom Spielfeld verschwunden sind und die Massen sich so langsam Richtung Ausgang auf den Weg machen.

Sobald es etwas leerer wird, gehen wir auch los, damit mein Vater sich beim Gewusel nicht verletzt. Die Heimreise wird heiter sein, und wir feiern bestimmt noch bei ihm ein wenig nach.