Der Abschied
Hier sitze ich nun bei dir.
Nachdem du den ganzen Morgen so still warst, sah ich nach dir. Doch da war bereits das Leben aus dir verschwunden. Deine Haut erkaltet, auch wenn deine Muskeln noch gelegentlich zucken.
Eine gute Gelegenheit für ein Gespräch, denke ich. Wirklich zugehört hast du ja nie.
Aber es bedeutet mir viel, dass du dir endlich Zeit dafür nimmst. Ganz still liegst du da, wartest geduldig darauf, dass ich beginne. So angenehm kenne ich dich gar nicht.
„Weißt du, Kinder sind nicht nur Prestigeobjekte, kein Traum eines Kindergartenkindes, das gern mit Puppen spielt. Da steckt viel Verantwortung dahinter. Seine Kinder sollte man lieben. Denkst du, du hast das ausreichend getan?“
Dein Schweigen werte ich als Nein, und spreche weiter:
„Ich weiß, auch andere Mütter haben Schwierigkeiten mit dem Lieben. Aber so sehr, wie du mich zum Spielball werden ließest, stets bereit warst, mich für ein wenig Linderung deiner eigenen Probleme zu opfern, das ist schon beunruhigend.“
„Du sagst, ich wäre die Schwierige, die Komische, zu streng, zu fordernd. Ich glaube, das habe ich lange geglaubt. Aber irgendwie habe ich noch nie jemanden getroffen, der das auch so sieht wie du.“
Nachdenklich blicke ich in dein ruhiges Gesicht, atme die abgestandene Luft ein, die dich umgibt, und lache leise.
„Selbst jetzt noch so auf dein Äußeres bedacht. Dein Ruf, dein Auftreten, das hatte immer Priorität. Ich frage mich, ob du als junges Mädchen schon so warst, oder ob dein Ehemann dich so vergiftet hat.“
Ich seufze.
„Das werden wir nun wohl nicht mehr erfahren. Ich weiß, wie es ist, in Gefahr zu sein, sich zu schützen, das Äußerste zu tun, um zu überleben. Aber wir haben eine Wahl. Die Wahl, ob wir trotz des Schmerzes versuchen, einen Weg zu finden, zu existieren, oder nicht. Du hast einen Weg gefunden, ja. Aber dich in die kognitive Entwicklung eines kleinen Kindes zu flüchten, halte ich für wenig förderlich, wenn man Dinge erlebt hat. Du warst nicht nur Opfer, du warst Täterin. Und dieses Verhalten deinen Opfern gegenüber ist nicht tolerierbar.“
Das Reden fällt schwer, doch du gibst mir Raum. Lässt mich atmen, reflektieren. Ich nehme mir Zeit.
„War das, was ich mir gewünscht habe, wirklich so ein unlösbares Ziel? Oder warst du bloß zu feige, Verantwortung zu übernehmen? Ich habe all die Sachen mitgemacht, dir immer wieder die Hand gereicht – dumme Tochter, die sich so sehr nach der Liebe ihrer Mutter sehnt. Bis zum Schluss blieb der Wunsch unerfüllt.“
Ich werde lauter, aufgebrachter, etwas, das dich sonst immer dazu brachte, noch weniger hinzuhören.
„Du hast dir ein Mädchen gewünscht. Ich war das Pferdemädchen, die Prinzessin, spielte Rollenspiele, war kreativ, liebte all das, was man als typisch Mädchen bezeichnet. Doch deine Bücher, die du so verehrtest, beschrieben Mädchen als gehorsame Hausfrauen, dazu da zu dienen und zu gebären. Du warst nie so ein Mädchen. Aber ich sollte es sein?“
Ich atme tief durch, zwinge mich zur Ruhe.
„Hättest du nicht, nachdem die Last leichter wurde, versuchen können, Dinge zu ändern? Verantwortung zu übernehmen? Ich wusste, das mit dem Lieben war vom Tisch, aber wie konntest du all das zulassen, und es jetzt noch herunterspielen, ignorieren, oder als Angriff sehen? Wieso war jedes Gespräch mit dir sinnlos?“
Ich nehme mein Handy, öffne den Messenger, um meinen Bruder zu informieren, dass er sich darum kümmern soll, dass dich jemand holt. Dann lege ich es weg und sehe dich an.
„Ich danke dir für das Gespräch. Bis zum Schluss gab es nichts, was du bereit warst zu tun, und nun ist es zu spät. Das, was dir immer am wichtigsten war, dein Ruf, wird mit jedem Mal, das ich über dich spreche, dein wahres Selbst zeigen. Und keine Träne werde ich vergießen. Wenn das das Ziel all deines Handelns war, dann kann ich dich nur beglückwünschen. Viel Spaß in deinem Loch in der Erde.“
Mit diesen Worten lasse ich dich zurück, in dem Bett, in dieser Wohnung.
Du bist so allein im Tod, wie du im Leben warst.
Weil du nie die Herzen der anderen berücksichtigt hast.